Wien singt 2021 – Terra incognita
„Jetzt ist es also tatsächlich wieder soweit“, denke ich, während wir leicht schlotternd (schließlich ist es Mitte Oktober) vor der Canisiuskirche darauf warten, dass wir einziehen können. „Unser erstes Chor-Konzert seit Pandemiebeginn.“
Vier Chöre sind involviert: die Young HIB Voices, der Unisono Chor Wien, der Neue Madrigalchor und wir, d’accord wien. Außerdem mit dabei das Ensemble Pachamanka, dem auch die beiden Solisten Juan Sebastián Acosta (Tenor) und Juan Carlos Paniagua (Bariton) angehören, und das uns mit lateinamerikanischen Instrumenten begleiten wird.
Auf dem Programm stehen die Misa criolla von Ariel Ramírez und andere Chormusik aus Lateinamerika. Konzipiert und koordiniert hat das Ganze Andrés García, Leiter des Neuen Madrigalchors, zur Feier des 20-jährigen Jubiläums des Chorforum Wien.
Dabei war es bis Konzertbeginn gar nicht so sicher, ob wir wirklich auftreten dürfen, denn Herbstbeginn bedeutete auch dieses Jahr, dass die Corona-Zahlen wieder stiegen und sich die Schutzmaßnahmen von einem Tag auf den anderen ändern konnten. So waren auch die Bestimmungen rund um das Konzert sehr streng: „geimpft + getestet“ galt für alle Beteiligten inklusive Publikum und nur zwei Tickets für Angehörige pro Sänger:in aufgrund der verringerten Sitzplätze. Dies galt auch für die insgesamt nur neun Proben, die uns zur Verfügung standen; nicht viel Zeit für eine Messe und das musikalische „Eingrooven“ mit drei anderen Chören. Ein Kraftakt also für die Sänger:innen wie auch für die jeweiligen Chorleitungen. Doch mit vereinten Kräften und Solidarität ist es doch gelungen, das Konzert stattfinden zu lassen.
Und jetzt stehe ich hier mit vielen anderen Chorist:innen vor einem Publikum und kann mein Glück kaum fassen. Im Hauptschiff der Canisiuskirche hängen hunderte weiße Möwen aus Papier. Ein schönes Symbol für die Chöre, die heute gemeinsam singen.
Zu Beginn singt das Männer-Ensemble (inklusive Katja Kalmar vom Balkon aus) Vasija de barro (Tongefäß) als Einstimmung auf das Konzert. Es geht darum, dass das lyrische Ich nach seinem Tod in einem Tonkrug begraben werden möchte, wie seine Vorfahren, im Lehm der Erde.
Mit Hanac pachap, einem Huldigungslied aus dem Peru des 17. Jahrhunderts, steigen die Erwachsenenchöre ins Konzert ein. Es bedeutet so etwas wie „Freude des Himmels“ und ist in Quechua verfasst. Eine festliche, ernste Hymne. Ich muss aber immer noch über einen Kommentar zum Stück von Katja lachen, den ich mir in meine Noten geschrieben habe: „Einmal in einem fetten Nudeltopf umrühren.“ Tja. Genauso singen wir es also.
Weiter geht es mit El cielo canta alegría (Der Himmel singt vor Freude), das nun die Kinder vom Young HIB Voices singen. Der Leiterin Beate Länger-Oelz sieht man die Freude an der Arbeit mit Kindern beim Dirigieren förmlich an. Es ist ein beschwingtes Lied und ein guter Kontrapunkt zu der Schwere des vorigen Stückes.
Danach folgt Ave Maria, das vom brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos stammt und, wie der Name schon sagt, die heilige Maria in lateinischem Text besingt.
Und dann geht es los mit der Misa Criolla, die aus fünf Teilen besteht. Jeder Teil hat einen unterschiedlichen Rhythmus bzw. eine andere Stilrichtung und entspricht damit verschiedenen Landesteilen von Lateinamerika. Es macht Spaß, die Messe zu singen, eben weil die einzelnen Teile so unterschiedlich sind. Gleichzeitig ist höchste Konzentration gefordert: Noten und Anmerkungen lesen und umsetzen (z.B. „D auf 2. Schlag absprechen“ oder „weicher Gaumen“, „Hinschauen! Wird ausdirigiert“ oder „ritaaardaaaandoooo“), Dirigenten anschauen, damit man keine „Kommandos“ verpasst, Wörter korrekt aussprechen und natürlich die Töne richtig treffen.
Nach der Messe folgen ein kurzes Instrumental-Stück des Ensembles und danach die Kinder, die Un poquito cantas singen. Wieder ein beschwingtes, lustiges Stück.
Das Abschlusslied bildet Ojos azules aus Ecuador, in dem ein geliebtes Mädchen und dabei vor allem ihre hübschen, blauen Augen besungen werden. Am schönsten war dabei der Moment, als die hellen Kinderstimmen alleine die erste Runde des Refrains „Qué valor, qué conciencia, tiene esta guambra para olvidar“ singen und erst danach die Erwachsenen einsetzen. Gänsehaut pur und ein würdiger Abschluss unseres ersten, langersehnten Konzerts.
Dem Publikum hat es gefallen. Und uns sowieso. Und das trotz aller Herausforderungen (neben Corona) wie dem Umgewöhnen auf einen anderen Chorleiter, dem Finden eines gemeinsamen Chorklangs mit Sänger:innen, mit denen wir noch keine Erfahrung haben, dem Kirchenhall und der kurzen Probezeit. All das nimmt man aber gerne jederzeit in Kauf, weil Chorsingen macht eben süchtig.
Und das Beste ist: Wer nicht dabei war, kann sich das Konzert trotzdem anschauen. Hier.
Text: Franziska Huemer
Fotos: Chorforum Wien